Der Brief aus Rorschach

Diese Masterarbeit thematisiert, basierend auf dem aktuellen Forschungsstand, Aspekte der Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges, im Besonderen die Weisung vom 13. August 1942 zur Grenzschliessung und deren Folgen.

Erlassen hat die Weisung das teils stark fremdenfeindlich und antisemitisch geprägte Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) trotz Wissen um die lebensbedrohliche Lage der Flüchtlinge, vor allem der jüdischen. Daraufhin griffen die Medien erstmals breit das Schicksal der Verfolgten auf. Der Bundesrat sah sich ebenfalls mit Protesten von Organisationen und Teilen der Bevölkerung konfrontiert. Entrüstet über einen Zeitungsbericht von der Rückweisung sechs belgischer Flüchtlinge, verfasste die Sekundarschülerin Heidi Weber aus Rorschach am 7. September 1942 einen Brief, in welchem sie die rigide Überstellung von Flüchtlingen an der Grenze anprangerte, und sandte ihn, unterschrieben von 21 Mitschülerinnen aus ihrer Klasse 2c, an die Bundesräte. Im Spannungsfeld zwischen Überfremdungsängsten, Antisemitismus und humanitärer Tradition sorgte dieser für eine scharfe Reaktion der politischen Behörden. Die Arbeit hat zum Ziel, vielfältige Informationen zum Entstehungskontext und den Folgen jenes Briefes zu gewinnen. Der Quellenkorpus umfasst dazu verschiedene schriftliche Quellen sowie vier Zeitzeugengespräche, die auf der Methode Oral History basieren. Zwei davon wurden mit ehemaligen Schülerinnen der Sekundarschulklasse 2c und eines mit dem Witwer der verstorbenen Briefinitiantin Heidi Weber durchgeführt.

Für diese drei Interviews wurden, in erster Linie basierend auf den Textquellen, zwei Interviewleitfäden entwickelt, die sich an das halbstrukturierte Interview anlehnen. Auf das vierte, im Rahmen einer anderen Untersuchung erstellte Gespräch durfte zurückgegriffen werden. Es enthält Tony Webers (geborene Tauba Süsskind) Erzählung von ihrer Flucht in die Schweiz und gibt damit der erwähnten Flüchtlingsgruppe aus Belgien eine Stimme. Anhand der schriftlichen und mündlichen Quellen konnte die Weisung vom 13. August 1942 und deren Folgen von drei Perspektiven aus untersucht werden: 1) aus jener der Behörden, im Speziellen aus jener des damals amtierenden Bundesrates und Vorsteher des EJPD Eduard von Steiger, 2) der ehemaligen Mädchensekundarschulklasse 2c aus Rorschach und 3) der sechsköpfigen belgischen Flüchtlingsgruppe, die am 28. August 1942 illegal Schweizer Boden betrat. Analyse und Auswertung der Oral History-Interviews erfolgten anhand der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Durch die gesamte Quellenarbeit führte folgende Fragestellung: Welche Erkenntnisse lassen sich heute aus der Analyse der Textquellen und unter Verwendung der Zeitzeugenberichte gewinnen? Durch Fachliteratur in den historischen Kontext eingebettet, ist ein mögliches Narrativ zu jenen Vorfällen im August 1942 entstanden, das ein facettenreiches Stück Schweizer Geschichte wiedergibt. Wohl beeinflusst durch ihre ersten Lebensjahre in Afrika, ihren Gerechtigkeitssinn und ihren christlichen Glauben, beschloss Heidi von sich aus, an die Herren Bundesräte zu schreiben. Von 32 Schülerinnen unterschrieben zehn nicht, davon die meisten auf Anraten der Eltern. Die geäusserten Vermutungen, dass dahinter elterliche Sympathien und geschäftliche Verbindungen zu Nazi-Deutschland ständen, konnten nicht gänzlich bestätigt werden. Tony Webers Schilderung zu ihrer Rückweisung zeugte einerseits von einem harten Vorgehen an der Grenze und warf andererseits die Frage nach der Rolle und Situation der Grenzwächter auf. Aus von Steigers Antwortschreiben auf die Zeilen der Mädchen, das er gegen seine Pläne nie veröffentlichte, liessen sich Rechtfertigungen für das Vorgehen an der Grenze finden, die mit Literatur auf ihre Triftigkeit hin geprüft wurden. Vorgelegt wurde der Rorschacher Brief unter anderem der Bundesanwaltschaft, deren Einschätzung zu einem Verhör von Klasse und Lehrer, als vermuteter Drahtzieher, führte: Ein politisch motivierter Akt wurde ausgeschlossen, hingegen mussten sich alle zu Stillschweigen verpflichten. Brief und Zeitungsbericht, aus welchem Heidis Motivation hervorging, lassen sich in die Schweizer Pressepolitik während der Kriegszeit einbetten.

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