Die Furtigen - Musical-Film an der PHSG in Rorschach
Fur|ti|gen, die: Substantiv, meist plural [ch, Dialekt]: ein Mensch von einem anderen Ort; meist assoziiert mit Fremdheit, Unbekanntem und daher entsprechende Vorsicht bezw. Skepsis in der Begegnung hervorrufend.
«In der Schweiz bestand und besteht noch immer eine Scheu, sich mit den Fakten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinander zu setzen. Da sind einerseits die Nachkriegsgenerationen, die durstig sind nach Wissen über die Politik jener Zeit, dort sind andererseits die Zeitzeugen, die aus persönlicher Betroffenheit oder aus Angst vor der Konfrontation zurückhaltend sind und nicht ohne Not das schmerzlich miterlebte Kapitel der europäischen Geschichte öffnen.» Mit diesem Zitat der Ex-Regierungsrätin des Kantons St.Gallen beginnt das Musical «Die Furtigen», welches im Rahmen der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Rorschach von den angehenden Lehrerinnen und Lehrern entstanden ist; und proklamiert eingehend eine klare Absicht, nämlich die Scheu dieser Auseinandersetzung abzulegen.
Das auf dem Text «Flüchtiges Glück» von Jörg Krummenacher basierende Musical erzählt anhand von vielen Originalzitaten, eindrücklichen Texten und ergreifenden Melodien diverser Musicals die Geschichte verschiedener Grenzbewohner:innen im Kanton St.Gallen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie deren Begegnung mit flüchtenden Menschen, die in der Schweiz Schutz vor dem sicheren Tod suchten. Auf der einen Seite steht die Schweizer Bevölkerung in Form von Personen wie dem Polizeipräsidenten Paul Grüninger und seiner Frau Alice, der Diepoldsauer Fluchthelferinnen Susann Eigenmann, Katharina Grässli oder Lubowa Sennhauser sowie drahtziehenden Figuren wie der Präsidentin der St.Galler Hilfe für Emigrantenkinder, Dora Rittmeyer, der orthodoxen Jüdin, Recha Sternbuch oder dem Leiter der israelitischen Flüchtlingshilfe St.Gallen, Sidney Dreifuss und dem Regierungsrat Valentin Keel, die auf politische Entscheidungen und deren Auswirkungen reagieren müssen. «Es ist doch Pflicht und Tradition der Schweiz, Menschen Asylrecht zu gewähren. Vor allem, wenn sie der Willkür ihrer Verfolger ausgesetzt sind.» proklamiert Grüninger aufgebracht, als ihm seine weitere Hilfe verwehrt wird. «Wir können es nicht unterlassen Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst.» schreibt die Rorschacher Schülerin Heidi Weber an den Bundesrat. Wer hilft? Wer verschliesst Augen und Ohren? Wer profitiert?
Auf der anderen Seite sind die «Furtigen», ihr Schicksal und der Versuch über die Grenze zu kommen und der Versuch, in der Schweiz zu bleiben oder über die Schweiz weiter zu reisen an einen Ort, an welchem sie in Sicherheit sind. Von der Wiener Kommunistin und Spanienkämpferin Tilly Spiegel, der jüdischen Familie Kreutner, die bei Susann Eigenmann Zuflucht findet, den Mädchen Eva Rottenberg oder Christiane Stolz, die den Kriegswirren entkamen oder dem Juden Hans Stricker dessen Liebe zu einer jungen St.Gallerin verwehrt wird; ihre Geschichte muss erzählt werden. Immer und immer wieder. Im Zentrum steht dabei die Begegnung, die Konfrontation mit dem Schicksal, mit Macht und Ohnmacht, mit Hoffnung und Trauer in einer Zeit, die so nie wieder stattfinden darf.
Das als Open-Air-Aufführung geplante Musical konnte in der Präsenzform auf Grund der Corona-Schutzmassnahmen nicht stattfinden. Neu wurde deshalb das Projekt als Film konzipiert, in welchem jeweils kleine Gruppen von Student:innen die Verantwortung für einen Szenenabschnitt übernahmen, diesen konzipierten, innerhalb der geltenden Schutzmassnahmen Aufnahmen vornahmen und schlussendlich zusammenschnitten. Gleichzeitig wurde unter der Leitung von Stéphanie Oertli (Gesang), Susanne Bolt (Band) und Björn Reifler (Regie/Choreografie) sowie in viel selbständiger Arbeit in Kleingruppen geprobt, um für die jeweiligen Aufnahmen bereit zu sein. Der vorliegende Film ist das Produkt aus einer intensiven, kreativen und lehrreichen Zeit, die trotz allen Einschränkungen mit grossem Interesse, Einsatz und Teamgeist genutzt und durchlebt werden konnte. Die Crew freut sich, den fertigen Musical-Film präsentieren zu dürfen und zudem, das ergreifende Musical in einem Jahr live auf die Bühne zu bringen…
Der Film steht PHSG-intern auf switchtube zur Verfügung. Das Musical-Team wünscht viel Spass.